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Saturday, May 22, 2010

Israel aus der Sicht einer Psychotherapeutin

Hazel Kahan (HK): Sie hören “Tidings” von Hazel Kahan. Mein heutiger Gast ist die Psychotherapeutin Avigail Abarbanel, geboren und aufgewachsen in Israel, 1991 nach Australien ausgewandert. Vor ein paar Monaten haben sie und ihr Ehemann sich im schottischen Hochland niedergelassen und dort ihre psychotherapeutische Praxis eingerichtet. Ich habe mich mit Avigail über Skype in ihrem Haus in der Nähe von Inverness unterhalten. Ich habe sie gebeten, als Psychotherapeutin das Land Israel zu anaylsieren, als sei es einer ihrer Klienten.

Es ist wirklich sehr erfrischend und interessant, mit einer Psychotherapeutin über Israel zu sprechen. Ich finde nämlich Israel extrem verwirrend. Ich sage (mir) ständig „wieso tun sie das, wieso behandeln sie die Leute so, wieso lassen sie die Situation – was wie eine Provokation aussieht – immer weiter eskalieren, anstatt sie zu beenden?“ Du hast geschrieben: die Geschichte Israels und des palästinensischen Volkes ist die Geschichte eines Traumas, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Traumatisierte glauben, dass ihre Wahrnehmung der Welt korrekt ist, aber was sie sehen wird oftmals interpretiert aus dem Blickwinkel ihres Traumas. Wenn du darüber also ein bisschen sprechen könntest.

Avigail Abarbarnel (AA): Nun, du sagst, du findest verwirrend, was in Israel passiert, und du verstehst nicht, was sie tun. Das ist eine Frage, die ich von vielen Leuten zu hören bekomme. Für mich ist das überhaupt nicht sonderlich verwirrend. So wie ich die jüdische Kultur verstehe denke ich, ist der Kern dessen, was dort gerade geschieht, schon in der jüdischen Kultur vorhanden. Jüdische Tradition, jüdische Religion, jüdische Existenz, jüdische Identität gründen von Anfang an auf der Vorstellung des Opferseins. Das fängt schon an in den biblischen Geschichten, von denen wir nicht genau wissen, wann sie geschrieben wurden und die nicht wirklich als historische Dokumente zu betrachten sind, auch wenn manche glauben, die Bibel sei wörtlich zu verstehen. Schon in diesen Geschichten findet sich diese Vorstellung von dem jüdischen Volk, das von anderen verfolgt wird. Immer wollte irgendjemand die Juden vernichten. Das ist also schon in der Kultur verankert.

Das wird nun aber noch verstärkt durch die Tradition in Europa, und als dann noch der Holocaust hinzukommt, ist das der Beweis, den das jüdische Volk brauchte, wo man deutlich sehen kann: die Welt ist gegen uns, alle wollen uns vernichten. Und nicht nur, dass sie uns vernichten wollen, sie wollen uns vollständig auslöschen. Das führt uns also direkt in den Kern der Kultur, aber all das hat nicht erst mit dem Holocaust angefangen. Aber wenn wir natürlich die zionistische Bewegung am Ende des 19. Jahrhunderts betrachten, dann ging es einzig und allein darum, eine Heimat für das jüdische Volk zu schaffen, als Zufluchtsstätte und als Platz, von wo sie niemand rauswerfen und wo sie niemand vertreiben würde, wo niemand ihnen irgendetwas antun würde und wo sie immer willkommen sein würden.

Das Problem mit dem Staat Israel ist, dass diese Idee zwar theoretisch interessant ist aber natürlich nur funktionieren könnte, wenn dort nicht schon andere Leute leben würden. Es ging also auf Kosten des palästinensischen Volkes, und das ist es, was so problematisch ist an dem, was dort geschieht. Wenn irgendwelche Leute in einem kleinen Ghetto für sich leben wollen, isoliert von anderen Leuten, dann ist das in Ordnung, aber wenn schon andere auf dem Land leben, das sie für sich beanspruchen, und sie müssen erstmal eine ethnische Säuberung durchführen und sie rauswerfen, um sich die erträumte Heimat aufzubauen, dann habe ich damit ein Problem.

Und ich glaube diese Fixierung auf das Trauma dient dem jüdischen Volk (als Rechtfertigung), die ganze Geschichte, alle biblischen Geschichten, die Geschichten über Joschua, einfach alles was, mit dem Alten Testament zu tun hat – einige deiner Hörer sind vielleicht vertraut mit den biblischen Geschichten - da findet man eine komplette Rechtfertigung in das Land Kanaan einzudringen und alle zu töten, das Land einzunehmen, und alle zu töten, die Kinder, die Frauen, die Alten, alle, und die Bibel spricht ständig davon, im Buch Exodus, Numeri und Deuteronomium, die ganzen Geschichten dort handeln alle davon. Es ist also ein Volk, das schon eine biblische Rechtfertigung dafür hat, ein anderes Volk aus seinem Land zu vertreiben im Namen von „wir haben gelitten, aber Gott hat uns geholfen und uns dieses Land verheißen, und jetzt haben wir das Recht, es einzunehmen“. Es gehört zu den Dingen, die ich den Leuten nur schwer erklären kann, dass dies nicht neu ist, dass es vielleicht schon von Anfang an zur jüdischen Kultur gehört, also die Trauma-Identität, die Vorstellung, dass ein ganzes Volk seine Identität auf der Vorstellung der Verfolgung aufbaut. Geschichte ist da nicht hilfreich, denn natürlich gab es Verfolgung, das ist kein reiner Mythos, aber (beim) Trauma in dem Sinne, von dem wir gerade reden, ist es schlicht so, dass Traumatisierte meist dazu neigen, das Trauma weiterzugeben.

HK: In Wirklichkeit existiert das Trauma eigentlich gar nicht mehr, ich meine, Israel, in verschiedenster Hinsicht, ist nicht mehr von Vernichtung bedroht. Diese existentielle Bedrohung ist irgendwie irrational, nicht wahr?

AA: Das sehen sie anders. Sie denken wirklich, dass sie in Gefahr stehen, vernichtet zu werden, und aktuell verbinden sie es mit Iran, zum Beispiel. In den Straßen von Tel Aviv glaubt man, dass Iran kurz davor steht Israel atomar anzugreifen und alle dabei umkommen werden. Und der Iran ist nur darauf aus alle Juden zu vernichten. Das ist es, was die Israelis einfach tatsächlich glauben. Der Grund dafür, dass sie das glauben, ist nun, dass Traumatisierte - und bevor ich weiterrede möchte ich unmissverständlich klarstellen, dass wenn ich jetzt versuche eine Erklärung zu geben, dass ich damit nichts entschuldige. Ich möchte einen klaren Unterschied machen zwischen einer Erklärung und einer Entschuldigung, denn mir haben schon Leute geschrieben ich sollte Israel für das, was es tut, keine Ausflüchte liefern. Ich denke nicht, dass ich das tue. Ich denke, da gibt es einen gewaltigen Unterschied. Meine folgende Erklärung ist nämlich ziemlich wichtig. Trauma lässt uns die Welt als Bedrohung wahrnehmen. Wir sind im Grunde gefangen in einem Gefühl ständiger Bedrohung ohne dass wir etwas dagegen tun könnten. Das spielt sich im Gehirn ab. Wenn Menschen unter einem Trauma leiden, ist ihr Gehirn dadurch beeinträchtigt. Wir wissen eine Menge über die Physiologie des Gehirns, und die chemischen Zusammenhänge rund um das Trauma sind recht gut bekannt und recht gut erforscht. Wenn wir zum Beispiel Soldaten betrachten, arme Soldaten, die aus Situationen in Kriegsgebieten zurückkehren und unter post-traumatischer Belastungsstörung leiden, die gehen mitten auf einer Straße in New York, nichts passiert, aber sie hören irgendein Geräusch und plötzlich wird irgendetwas bei ihnen ausgelöst, so dass sie glauben, dass sie sich genau in diesem Moment tatsächlich in Gefahr befinden. Trauma entsteht, wenn Menschen eine existentielle Bedrohung spüren, und die dadurch verursachten Veränderungen im Gehirn führen dazu, dass sie auch weiterhin glauben in Gefahr zu sein.

Auf einen nationalen Maßstab übertragen, kann man eine ganze Kultur daraus entwickeln. Das ist auch nicht auf Israel beschränkt. Wenn man die Psychologie und Soziologie von Kulten betrachtet, sind viele so gestrickt. Ganze Gruppen glauben sich unter ständiger Bedrohung. Denn wenn man traumatisiert ist, wird die Identität vom Trauma bestimmt. Alles wird zwangsläufig darauf bezogen. Wenn man Israelis erzählt „tut mir leid Jungs, aber ihr seid nicht wirklich bedroht, ihr seid eines der mächtigsten Länder im Nahen Osten, ihr verfügt inzwischen über eine der mächtigsten und am besten ausgestattetsten Armeen der Welt, und ihr seid in keinster Weise gefährdet“, dann werden sie einen nur verständnislos anschauen und das abstreiten, weil es nicht in ihre Weltsicht passt.

HK: Was würden sie einem sagen?

AA: Sie würden es einfach abstreiten, sie würden sagen „das ist nicht wahr“ und sie würden gar nicht erst weiter zuhören. Man kommt an einen Punkt, wenn man versucht mit jemandem zu reden, auch wenn man mit Klienten arbeitet, und sie erzählen einem in jeder Sitzung von Neuem was alles Schlimmes passiert, da stellt sich, wenn man ihnen genau zuhört, heraus, dass es in Wirklichkeit gar nicht so ist; sie tun so, als ob sie verfolgt würden, ohne es wirklich zu sein. Wenn man versucht, sie darauf anzusprechen, schauen sie einen nur verständnislos an, sie hören einfach nicht mehr zu. Wenn man sie herausfordert, hinterfragt, dann ist man nicht mehr einfach jemand der Fragen stellt, sondern wird zum Feind, denn wenn man derart traumatisiert ist, ist die Welt sehr deutlich in schwarz und weiß aufgeteilt. Es gibt nur Wir und Sie, und es kann nichts dazwischen geben. Erinnerst du dich an den berühmten Satz von George Bush nach den Anschlägen vom 11. September? „Entweder ihr seid auf unserer Seite, oder ihr seid auf der Seite der Terroristen“. Das ist das, wovon ich rede.

Jemand, der traumatisiert ist, muss sich von allem fernhalten, was in irgendeiner Form Unruhe oder Stress verursachen könnte, und schon geringe Kleinigkeiten können Stress auslösen. Und andere Menschen können diesen Stress sehr leicht auslösen. Es ist da also schon eine Tendenz zur Selbstisolierung, es ist da in jedem Fall diese Mentalität, aber in Israel findet es seine Ausprägung in einer extremen Ghetto-Mentalität. Wenn sie einen Zaun, eine Mauer zwischen sich und den Palästinensern errichten, halten sie nicht nur die Palästinenser fern, sondern sperren sich auch selbst dabei ein. Zäune haben nun einmal zwei Seiten, und das ist nun wirklich interessant, denn Juden wurden seit dem Mittelalter in Ghettos gedrängt. Das ist keine deutsche Erfindung. Und es ist interessant, dass Israel das in gewisser Weise wiederholt, es nachlebt. Und das ist ein anderer Aspekt des Traumas. Das hat viel mit Nachleben zu tun. Wir sind Erfahrungswesen. Wir tendieren dazu nachzuleben und nachzumachen, was wir kennen. Wir mögen keine Veränderung, wir möchten nicht, dass die Dinge anders sind, als wir es gewohnt sind. Und bei einem Trauma, wenn die Weltsicht darin besteht, dass die Welt ein gefährlicher Ort ist und man sich ständig in Gefahr befindet, dann wird alles, was man tut, alles was im Laufe des Lebens geschieht, aus dieser Perspektive interpretiert.

HK: Avigail, wir haben verschiedene Aspekte des Traumas angesprochen, und bevor wir weitermachen, möchte ich gerne einige Themen zusammenfassen, über die du in deiner Arbeit geschrieben hast. Wie du uns gerade erzählt hast, siehst du im Trauma das Organisationsprinzip der israelischen Gesellschaft, die Psychologie, die den nationalen Charakter geformt hat. Obwohl du auf die lange Geschichte des jüdischen Traumas verweist, die dem Holocaust um Jahrhunderte vorausgeht, gehen heute die meisten Menschen davon aus, dass es der Holocaust ist, durch den alles erklärt und gerechtfertigt wird, was Israel tut. Ich habe mich manchmal gewundert, wie es sein kann, dass das Trauma selbst nachfolgende Generationen in Mitleidenschaft zieht, jene, die durch zwei oder drei Stufen von den tatsächlichen Ereignissen des Zweiten Weltkriegs entfernt sind, und wie die Misrachim, jene, die aus nicht-europäischen Ländern nach Israel gekommen sind, ebenso davon betroffen sein können ohne das alles selbst durchgemacht zu haben. Du schreibst, dass „die Geschichte Israels und der Palästinenser eine Geschichte der Weitergabe des Traumas von einer Generation zur nächsten ist“ und daß „meine Leute“, wie du es ausdrückst, „es zugelassen haben, dass ihre Lebensqualität und ihre Identität von jenen bestimmt werden, die sie gehasst und an ihnen Verbrechen begangen haben.“ Du sagst des weiteren, dass „Heilen eine riskante Angelegenheit ist, die die Bereitschaft voraussetzt, die eigene Identität zu ändern“ Ein Unterfangen das einigen Mut erfordert. Dann schreibst du, indem du das Werk des amerikanischen Psychiaters Murray Bowen zitierst, über den engen Zusammenhang zwischen Trauma und Verfolgung, der eine Neigung zur Folge hat, besonderes Gewicht auf die Stärke, die der Gruppenzusammenhalt bietet, zu legen. Dies führt dazu, dass diejenigen als Verräter betrachtet werden, die nicht so fühlen, denken, einer Meinung sind oder handeln wie die Gruppe. Bowens Theorie der Differenzierung beschreibt die Spannung im Ausbalancieren von Selbstbewusstheit und Eigenständigkeit gegen den Sog von Familie und Gesellschaft zu Anpassung und Anschluss an die Gruppe. Es wurde behauptet, dass israelische Institutionen – die Religion, die Schulen, die Armee und natürlich das Trauma-Narrativ – besonders effektiv darin sind Konformität zu fördern und Individualismus zu unterbinden. Das siehst du genauso, ist das richtig?

AA: Das ist gigantisch. Die Indoktrination dort ist nicht weit von dem entfernt, was man als regelrechte Gehirnwäsche betrachten könnte, nur dass sie nicht durch Zwang erreicht wird sondern durch unglaublich wirkungsvolle aber sehr subtile Mechanismen, durch die Gesellschaft, die Lieder, die Kultur, durch Gedenktage, durch Zeremonien, durch die Auswahl an Inhalten, die an den Schulen vermittelt werden. Wir haben es hier mit einer Konsenskultur zu tun. Die meisten Israelis, egal für welche Partei sie gestimmt haben mögen, stimmen grundsätzlich darin überein, dass die Idee des Jüdischen Staates o.k. ist und dass Israel ein sicher Hafen für alle Juden sein muss, all das ist nationaler Konsens. Nur um den anderen Punkt abzuschließen, Murray Bowen: es ist ebenfalls sehr interessant, „Eigenständigkeit“ genauer unter die Lupe zu nehmen. Murray Bowen hat nämlich darauf hingewiesen, dass im Menschen ein Hang zur Entwicklung von Individualität veranlagt ist. Wir alle beginnen von kleinauf ein Gespür dafür zu entwickeln, dass ich nicht bin wie du, und den Wunsch zu wissen, wer ich bin. Und diese beiden Kräfte, zu sein wie alle anderen und gleichzeitig das Bedürfnis, ich selbst zu sein, diese Spannung scheint uns unser ganzes Leben hindurch zu begleiten. Der Zweck der Differenzierung ist nun die Fähigkeit, allmählich zu werden, wer ich bin, aber nicht so sehr in aktiver Auflehnung gegen meine Gruppe, sondern eher unabhängig davon. Je undifferenzierter also die Mitglieder der Gruppe, desto schwerer ist es für den einzelnen in der Gruppe seine Individualität zu entwickeln.

Das ist es, was in Israel passiert. Israel ist eine sehr wenig differenzierte Gesellschaft. Die Selbstbewusstheit ist sehr stark geknüpft und gekoppelt an das Gruppengefühl.

HK: und das findet seinen Gipfel in der Armee ...

AA: ja, stell dir vor, anfänglich bin ich gern zur Armee gegangen, ich fand es cool Uniform zu tragen und akzeptiert zu werden, ich glaube, während meiner Zeit in Israel war dies vermutlich die Zeit in der ich am meisten akzeptiert war. Ich glaube ich habe darüber irgendwo in einem meiner Artikel geschrieben, denn es ist sehr symbolisch, es ist das Herz der Armee, des Militärs, es ist das Herz Israels. Israel glaubt nicht, dass es ohne eine starke Armee existieren kann. Israelis glauben, dass sie unmittelbar von Vernichtung bedroht sind, und dass sie ohne die Armee nicht überleben können und in’s Meer geworfen werden. Da ist dieses Gefühl, dass, hätten die Juden sich zu verteidigen gewusst, die Nazis nicht das hätten tun können, was sie getan haben. Da ist immer ein gewisses Maß an Abschätzigkeit gegenüber den Opfern des Holocaust, als wären sie selbst schuld, weil sie sich nicht wehren konnten, und also deshalb das alles durchgemacht haben. Und Israel hat geschworen, ich meine, der neue Jude, der neue Jude, den Israel erschaffen hat, ist ein völlig anderer Jude, ein Jude, der sich selbst zu verteidigen weiß und sich nicht mehr herumstoßen lässt. Das ist die Kultur, und das, was ich hier sage, ist nicht irgendeine abgehobene Philosophie, das ist etwas, worüber die Leute ständig nachdenken, ständig sprechen und ständig singen. Man muss sich nur die Lieder im israelischen Radio anhören. Ich singe gerne. Ich kenne eine Menge davon. Ich kenne die Texte.

HK: was ist es, das diese israelischen Lieder ausmacht?

AA: Nun, alles von „wo sonst sollten wir hingehen, dies Land ist alles was wir haben, nur hier können wir überleben“ es ist die Rede von „unseren Soldaten, unseren Edlen, unseren wunderbaren Soldaten, unser Leid ist größer als alles Leid der Welt, wenn wir jemanden verlieren, und wir sind gut und wunderbar, sind wir nicht entzückend?“ Ich meine, die Leute erzählen mir immer wieder, dass das in jeder Kultur vorkommt, und ich will das auch gar nicht bestreiten; ich behaupte nicht, dass Israel da ein kompletter Einzelfall ist. Ich sage nur, dass dies das ist, was ich kenne. Ich weiß nicht, wie das in der norwegischen oder amerikanischen Kultur ist, ich weiß noch nicht einmal, wie das in der schottischen Kultur ist, weil ich neu hier bin.

HK: Dies ist „Tidings“ von WPKN Radio und Sie hören die Psychotherapeutin Avigail Abarbanel, die gerade dabei ist, Israel als Land mit den Prinzipien der Psychotherapie zu analysieren, als wäre es einer ihrer Klienten. – Um das Trauma aufrechtzuerhalten auch weil es das ist, was ihnen vertraut ist AA: das ist ihre Identität! HK: ja, deshalb müssen sie ständig neue Feinde finden. Ja, und es hat etwas Eskalierendes. Zunächst war es Israel, umgeben von all den arabischen Ländern, und ein Krieg nach dem anderen, und nun die Palästinenser, die zum ärgsten (Feind geworden sind), ja, jeder einzelne Palästinenser ist der Feind, jeder Mann, jede Frau, jedes Kind. Am Checkpoint ist jeder ein Feind und wir geben ihnen Papiere, um sie als Feind zu identifizieren, wir weisen ihnen separate Autos, separate Straßen zu, und seit Neuestem ist es der Iran, wie du sagst. Dazu kann man nur sagen: Wahnsinn. Ich meine, ich weiß nicht, du sagst hier „ ich versuche die Welt wissen zu lassen, dass man mit Israel nicht argumentieren kann, und dass es deshalb eine internationale Intervention in Palästina geben muss, um die Bevölkerung vor einer möglichen Vertreibung zu schützen, und ich glaube, die Zeit drängt.“ Ich weiß nicht genau, wann du das geschrieben hast, aber hast du (tatsächlich) das Gefühl, dass man mit Israel nicht argumentieren kann und dass eine Intervention in irgendeiner Form notwendig ist?

AA: Nun ja, die bisherige Erfahrung zeigt, dass man mit Israel nicht vernünftig reden kann. Jede einzelne Person, die an die Macht kommt, jede neue Regierung macht immer wieder nur dasselbe. Israel verfolgt unbeirrbar das Ideal des sicheren Hafens für die Juden, das ist alles, worum es in Israel geht, einen anderen Zweck hat Israel nicht, und entsprechend wird alles diesem Ziel untergeordnet. Ich kann nicht erkennen, dass sich das ändert, es gibt keine Anzeichen, dass es sich ändert.

Es gibt wunderbare Gruppen in Israel oder Leute, die Fragen stellen, Leute, die eine ähnliche Reise hinter sich haben wie ich und Fragen gestellt haben, Leute in Israel, die von einer Ein-Staat-(Lösung) reden, Leute, die die Besatzung in Frage stellen und die Boycott-Bewegung unterstützen. (Aber) ich glaube Israel gehört zu der Sorte von Klienten, die nie aus eigenem Antrieb eine Therapie aufsuchen würden. Stellen wir uns z.B. vor wir haben es mit einer Situation zu tun in der ein Mann seine Frau schlägt und wir sind die Vertreter der Behörden, die Sozialarbeiter, die in dieser Situation intervenieren. Wenn wir nun dem Mann erklären „was Sie tun ist falsch, Ihre Frau ist durch sie gefährdet, sie müssen aufhören damit weiterzumachen und wir möchten, dass sie eine Therapie aufsuchen, um herauszufinden, warum sie das tun“. Wie, meinen Sie, wird dieser Mann reagieren?

Sehen Sie, in der Realität, im richtigen Leben, ist es nur eine verschwindend kleine Minderheit von Tätern, die tatsächlich freiwillig Hilfe aufsuchen. In dieser Situation gibt es deshalb überall in der westlichen Welt eine best-practice, wenn es um häusliche Gewalt geht: man trennt die Parteien, man steckt nicht zwei, man steckt z.B. nicht einen Mann und eine F(rau in einen Raum), womit ich nicht sagen will, dass nur Männer Frauen missbrauchen, das gibt es (auch) andersherum, aber gehen wir zu Demonstrationszwecken von einem Mann und einer Frau aus, wobei der Mann gewalttätig ist: wenn man z.B. in so einer Situation eine Mediation durchführt, wird man die beiden nie in denselben Raum stecken. Man wird generell keine Paarberatung machen. Eine Paartherapie, und das ist allgemeiner Usus sowohl bei privaten als auch öffentlichen Anbietern, wird sofort abgebrochen, sobald sich herausstellt, dass ein gravierendes Ungleichgewicht zwischen den Partnern besteht, oder dass ein Partner gewalttägig ist. Es wird davon ausgegangen, dass Paartherapie (in einem solchen Fall) nicht nur unpassend sondern regelrecht schädlich und gefährlich wäre. Man wird also beide getrennt behandeln und zuallererst das Opfer in Sicherheit bringen. Wenn es sich also um eine Frau und Kinder handelt, die misshandelt wurden, wird man sich als erstes um ihren Schutz kümmern.

Ich wünsche mir, dass mit Israel ähnlich verfahren wird. Momentan, wenn man sich das Ganze aus einer gewissen Entfernung anschaut, dann sieht man, dass die Leute versuchen Israel zu beknien „könntet Ihr nicht vielleicht doch, wäre es vielleicht möglich, dass wir die Gespräche wieder aufnehmen und die Verhandlungen (fortsetzen), lasst uns doch wieder miteinander reden.“ Das wird einfach kein Gehör finden. In der Realität ist eine solche Haltung heutzutage, in 2010, im Falle von häuslicher Gewalt völlig inakzeptabel. Wenn es jedoch um internationale Beziehungen geht, findet man immer noch die Verhaltensmuster der 50er und 40er Jahre. Ich glaube also nicht, dass man darauf vertrauen kann, dass Israel plötzlich von alleine zur Besinnung kommt (im Sinne von „oh Gott, was mache ich da eigentlich“). In meiner gesamten Berufslaufbahn als Psychotherapeutin hatte ich bisher einen einzigen Fall, wo jemand von sich aus zu dieser Selbsterkenntnis gelangt ist, aber das passiert extrem selten. Übertragen auf Israel bedeutet das, dass Israel der gewalttätige Ehemann ist, während die Palästinenser sich in der Rolle der geschlagenen Ehefrau befinden, dass man also nicht darauf vertrauen kann, dass Israel (von sich aus) aufhört, sondern es dazu zwingen muss, und die Intervention, die ich mir wünschen würde, auch wenn ich die Boycott-Bewegung großartig finde und sie unter anderem auch wegen ihres gewaltfreien Charakters unterstütze und weil sie in Südafrika erfolgreich war, so würde ich doch gerne sehen, dass eine (UN?) Friedenstruppe reingeht und Israel die Möglichkeit nimmt, die Palästinenser an den Checkpoints zu schikanieren, und dass man sich wirklich ernsthaft um die Palästinenser kümmert, anstatt sie der Willkür der Israelis auszuliefern, wie es zur Zeit geschieht.

Ich möchte keinen Krieg sehen, ich möchte nicht mehr sehen, dass Menschen sich gegenseitig umbringen, es reicht, aber definitiv irgendeine Form von Intervention. Ich möchte sehen, dass jemand Israel sagt „es ist nicht in Ordnung, was Ihr da tut“, aber statt dessen, alles was von den USA kommt, ist ein Veto, jedesmal, wenn die Welt versucht Israel zu sagen „es ist falsch, was ihr da tut“, wird es von den USA im Sicherheitsrat blockiert. Die USA verhalten sich wie ein Komplize, sie benehmen sich wie der Nachbar, der dem gewalttätigen Ehemann auf die Schulter klopft: „ist schon o.k., mach ruhig weiter so, schließlich hat deine Frau ja wirklich nicht richtig für dich gekocht, die hat ne ordentliche Tracht Prügel verdient“, wissen Sie, genauso machen es die Amerikaner, und um ehrlich zu sein, ich verstehe wirklich nicht warum. Es gibt dazu eine Menge Theorien, aber niemand versteht wirklich, warum die USA das tun. Es gibt natürlich auch noch andere Komplizen überall auf der Welt und es gibt dieses Massada-Syndrom: eher würden sie sich alle miteinander die Klippen hinunterstürzen, und das macht mir wirklich Angst, denn Israel verfügt über Atomwaffen, und niemand weiß, was sie damit anfangen werden. Sie sind verdammt gefährlich.

HK: Du sagst, die israelische Gesellschaft ist eine traumatisierte Gesellschaft und deshalb sehr gefährlich.

AA: Sie ist gefährlich und sie hat diese selbstzerstörerischen Tendenzen, sie ist destruktiv, wie auch immer man es betrachtet, und ich wundere mich, dass Obama bei Gesprächen über Atomwaffen so ausweichend agiert, obwohl jeder weiß, dass Israel bis zu den Zähnen bewaffnet ist. Ich habe Angst, dass Israel, wenn es in die Ecke gedrängt wird – und das ist ein schreckliches Szenario vor dem ich wirklich Angst habe, was mich erschreckt ist der Gedanke, dass wenn Israel gedrängt wird aufzuhören mit seiner aktuellen Praxis, dass es dann zurückschlagen könnte indem es völlig durchdreht und sich selbst in die Luft jagt.

HK: und das hat wiederum mit Traumamentalität zu tun?

AA: Da bin ich mir sicher. Da ist z.B. der Mann, da ließen sich viele Beispiele anführen, erst vor wenigen Monaten gab es in Australien so einen Fall von einer gewalttätigen Beziehung, wo der Mann gezwungen worden war aus der gemeinsamen Wohnung auszuziehen und mit Kontaktverbot belegt worden war, der ist hingegangen und hat erst die Frau und dann sich selbst umgebracht, ein erweiterter Selbstmord, er hat die Kinder, seine Frau und sich selbst umgebracht hat, mit anderen Worten „ wenn ich (die Kinder) nicht haben kann, dann soll sie niemand haben“, und das ist es, was mir Angst macht, dass Israel eine solche Mentalität an den Tag legen könnte: „wenn wir nicht ganz Palästina haben können, dann soll es niemand haben können“. Das ist eine Möglichkeit. Ich hoffe, ich liege damit völlig daneben, aber ich würde es nicht völlig von der Hand weisen, denn es gibt in der jüdischen Tradition sehr viel Respekt für die Verteidiger von Massada, die sich lieber selber das Leben genommen haben, als in die Hände der Römer zu fallen, und es gab noch mehr solche Massadas. Auch wenn dieses Massada das bekannteste ist, so gab es andere Beispiele in der Geschichte, als die Juden, als Judäa unter römischer oder griechischer Besatzung war, da gab es Geschichten wie diese, dass Leute es vorziehen Selbstmord zu begehen. Das macht mir Angst. Man kann nicht einfach eine Atombombe im Nahen Osten zünden, ohne das alle davon betroffen sind. Das ist alles ziemlich klein dort.

HK: aber, mit dieser Ein-Staat-Lösung hätte man dann zwei traumatisierte Völker, die Israelis und die Palästinenser, Seite an Seite. Wie können zwei traumatisierte Völker miteinander auskommen?Welche Lösungen siehst du für dieses Problem?

AA: Nun ja, es wird sehr schwierig werden und eine gehörige Portion an Phantasie und gutem Willen, eine Menge an Geschick und Wissen erfordern. Zunächst einmal denke ich, es gibt wirklich viele gute, intelligente und gut ausgebildete Leute auf beiden Seiten, die sich mit ihren Ideen und ihrer Energie an die Arbeit machen könnten. Ich denke auch, dass es eine Menge Therapeuten und Sozialarbeiter brauchen wird, die bereit sind, nach Palästina zu gehen und dort auf nationaler Ebene einen Versöhnungsprozess auf den Weg zu bringen, vielleicht zunächst einmal nach dem Modell von Südafrika. Es gibt genügend positive menschliche Energie, genügend Intelligenz, genügend hervorragend ausgebildete Leute und kreative, spirituelle und gute Menschen, die viel bewirken können. Es kann wunderbar sein, oder? Irgendetwas wird passieren oder am Ende steht ein vollständiger Genozid an den Palästinensern.

HK: oder ein Atomkrieg im Nahen Osten...

AA: Gott bewahre!

HK: nicht um auf der dunklen Seite zu enden, sondern um die dunkle Seite kennenzulernen, lass uns, bevor wir zum Ende kommen, ein wenig über die dunklen Aspekte des Aktivisten-Daseins oder auch der Tätigkeit als Sozialarbeiter oder Therapeut reden, ständig konfrontiert mit Trauma und der dunklen Seite der menschlichen Natur. Wie kann man sich als im Gesundheitswesen Tätiger oder als politischer Aktivist vor den Traumata der anderen schützen?

AA: Zunächst einmal ist es sehr wichtig sich klar zu machen, dass jeder, der versucht gut zu sein in verschiedenen Gebieten, in denen viel menschliches Leid zusammenkommt, Gefahr läuft, überproportional mit den unschönen und dunklen Seiten der menschlichen Natur konfrontiert zu werden. Es ist sehr hart, wenn man auf einem Gebiet tätig ist wie der Psychotherapie und mit Traumatisierten arbeitet, oder als Aktivist mit schwarzen Südafrikanern unter der Apartheid, oder man arbeitet mit sexuell missbrauchten Kindern und dergleichen mehr, und als politischer Aktivist, der täglich mit schrecklichen Ungerechtigkeiten und solchen Dingen zu tun hat, mit unfairer Behandlung, Leid und Folter, man bekommt einen unverhältnismäßig hohen Anteil von den dunklen Seiten des Lebens ab, und das ist sehr sehr gefährlich, denn wenn man dem zu sehr ausgesetzt ist, ist es schwer, sich eine ausgewogene Sicht auf das Leben zu bewahren. Ich denke nicht, dass wir unser Leben damit zubringen sollten, alles durch eine rosagefärbte Brille zu betrachten und zu glauben alles ist in Butter und wunderbar. Aber ich denke ebenso, dass die andere Seite auch sehr gefährlich ist. Wir fangen an zu denken, „ach, alles ist negativ, alles ist schlecht, alles ist hoffnungslos, wir sind alle dem Untergang geweiht“. Das ist genau die Sprache des Traumas.So sprechen Traumatisierte. Es ist also ausgesprochen riskant.

Wenn man auf diesen Gebieten tätig ist, läuft man Gefahr, selbst traumatisiert zu werden, und der klinische Begriff dafür ist „sekundäre Traumatisation“ oder „Burnout“ auf meinem Gebiet. Dabei muss es einem selbst gut gehen, wenn man anderen Leuten helfen will. Ich denke also, dass es ein Fehler ist (zu meinen), ein guter Mensch sollte sich selbst nicht besonders wichtig nehmen und sollte sich nicht groß um sich selbst kümmern, weil das egoistisch ist. Ich habe gelernt, dass ich nur deshalb nachhaltig und ohne Burnout mit Leuten arbeiten kann, und ich bin stolz, dass ich in zehneinhalb Jahren ununterbrochener Praxis keinen einzigen Burnout hatte, weil für mich mein eigenes Befinden Vorrang hat.

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Wer mehr über Avigail Abarbanel und ihre Arbeit erfahren möchte, findet über folgenden Link ihre Homepage:http://www.avigailabarbanel.me.uk

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Please visit Tidings from Hazel Kahan to hear the English language podcast or to link to the English language summary of this interview.